Thronrede 2011
Dentler-Preis an Samy Wiltschek von der Kulturbuchhandlung Jastram
Bevor ich mit meiner Rede beginne, auf die Sie sicherlich schon lange warten, möchte ich euch einen nicht ganz unbekannten Ulmer vorstellen.
Euer Beifall scheint mir ein untrügliches Zeichen, dass Ihr heute alle außergewöhnlich gut drauf seid… Aber… sind es denn tatsächlich auch alle? Es soll ja Menschen geben, selbst Ulmer, die an diesem ach so fröhlichen Schwörmontag, nicht im Stande sind, aus eigener Kraft zu lachen. So höret jetzt ein lied das genau davon handelt.
Es folgt das Lied: „Mein Lieblingsscheißgefühl“
Was ist Tradition?
Dass ich euch mit Adeptinnen und Adepten anrede?
So wie euch mein Vater, der König von Ulm, schon 1989 begrüßt hat?
Ich könnte dieses Jahr doch auch mal „Hallo liebe Leut“ sagen. Aber wär das noch das Gleiche? Ihr kommt doch hier her vor den Thron, weil ihr die Alternative Schwörmontags-Rede hören wollt und die beginnt nun mal mit Werten.
Also, werte Adeptinnen und Adepten, einer dieser Werte ist Tradition.
Quelle: Südwest Presse, Kamera/Schnitt: Lydia Bentsche, Redaktion: Johannes Sommer
Es ist ein Gebilde aus Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen, das in einer Kette von Generation zu Generation weitergetragen wird.
Wir alle sind Wissenträger: lernen, erfahren selbst, holen Ratschläge. Aber wir probieren auch aus, versuchen neue Varianten, und erfinden in jeder Zeit ganz neue Möglichkeiten – aber müssen die ganzen kleinen Läden weichen, damit wir eine Züricher Bankenmeile in unsere Innenstadt bekommen?
Ohne Tradition würden wir keine Epochen kennen, gäbe es keine Erfindungen, würden wir vielleicht noch immer in Höhlen wohnen und uns vielleicht mit einer dicken Venus aus Stein schmücken.
Tradition hat doch was, oder?
Wenn so viele vor uns schon den Weg gegangen sind, kann doch nichts falsch daran sein! Aber ist eine Masse wirklich immer auch der klügste Ratgeber? Das blinde Nachlaufen immer auch der sicherste Pfad?
Manchmal ja, manchmal nein!
Was ich sagen will: seid wach, hinterfragt, prüft nach – tragt die Tradition weiter, aber tragt sie mit Sinn und Verstand weiter. Nichts ist wertloser, als hohle, leere Tradition.
Und gebt Ihr auch immer einen Anstich, der sowohl dem Ursprung als auch dem Jetzt gerecht wird.
Nehmen wir das Schwörwochenende als Beispiel: es hat seinen Ursprung im 14. Jahrhundert.
So wie vor 600 Jahren feiert heute doch kein Mensch mehr.
Deshalb setzen wir uns heute auch auf Gummiboote, beschallen das Münster mit Popmusik und pilgern uns zuprostend durch alle Gassen.
Aber, liebe Leut, das Schwörwochenende darf auch nicht zum reinen Spaß- und Saufgelage verkommen.
Ivo, da müssen wir was machen! Es ist nicht nur meine Aufgabe, sondern auch Sache des Bürgermeisters, seinem Volk zu erklären, was wir hier eigentlich feiern.
Und abgesehen davon: Nur Menschen, die wissen, was der Ursprung unseres Feiertags ist, können den Sinn auch wieder in kommende Generationen weitertragen.
Sicherlich: in 50 Jahren sieht das Ganze bestimmt anders aus als heute. Vielleicht bin ich dann diejenige, die dasitzt und meckert, dass früher alles besser war.
Tradition und Veränderung sind und bleiben Feinde, die aber ohne einander nicht sein können. Ohne Veränderung würde Tradition verstauben und auf Dauer ersticken. Ohne Tradition als sichere Verankerung, wäre aber Veränderung, also Anderssein witzlos. Anders sein als was?
Tja, da scheiden sich die Geister. Und es wird immer Ulmer geben, die sagen: ha, des good idda, des hät no koina so gmacht wie Siiiie!!!
Probieren wir’s doch gleich mal aus, die Veränderung: Die Ulmer Prinzessin trägt doch traditionell ein langes rotes Gewand plus Diadem auf dem Kopf, richtig? Geht denn neuerdings auch eine Prinzessin in Strapsen? Jawohl, geht.
Wer von euch war bei der Rocky Horror Picture Show auf der Wilhelmsburg?
Da sind zu jeder Aufführung Massen in Strapsen und schräger Verkleidung hingepilgert. Diese Aufführung hat die sonst so zurückhaltenden Schwaben aus der Reserve gelockt. Sehr gut!
Übrigens auch gut, nein, hervorragend waren die Schauspieler! Unser Ensemble, in dem ich mal wieder ein halbes Jahr mitarbeiten durfte, ist so fantastisch. Ich ziehe mein Diadem vor Euch.
Es ist doch eine wahre Kunst in eine andere Rollen zu schlüpfen. Eine Schau-Spiel-Kunst. Eine Kunst, die wir immer dann nachzuahmen versuchen, wenn wir selbst mal Lust auf eine andere Rolle haben. Mit dem Ergebnis, dass wir uns zwar zur Schau stellen – aber ohne Kunst.
Wenn abends die jungen Mädls in ihre Discos staksen, wirkt ihr Aufzug doch eher wie eine misslungene Verkleidung und weniger wie ein individueller Ausdruck des jeweiligen Selbstverständnisses. Es ist vielleicht bestenfalls noch der neuerste Modeschrei. Bemerkenswert ist ja auch, dass alle gleich ausschauen, wie von der Stange.
Vielleicht ist der uniformierte Modeschrei nur der Schrei nach einer passenden Rolle. Verständlich wär’s ja: keine hat eine eigene Rolle. Und bei den Jungs ist’s nicht besser. Die tragen alle den gleichen windigen Schal.
Die Jugend ist eh arm dran. Was haben sie denn noch im Vergleich zu anderen Jugendgenerationen? Auf die Straße brauchen sie nicht mehr gehen! Wenn schon ihre Eltern als Wutbürger gegen Bahnprojekte und Atomkraft Sturm laufen – dann brauchen sie doch nicht auch noch demonstrieren, oder?
Die Generation Praktikum, also ihre direkten Vorgänger von vor 10 Jahren, hat noch immer keine guten Jobs – also scheint die Motivation dafür auch eher zwecklos. Die Spaßgesellschaft hat ausgelacht. Und Provokation – naja… wen will man denn heute noch provozieren? Vor allem mit was? Es ist echt schwierig!
… also sitzen sie auf der Donauwiese und füllen die Leere mit Bier. Das klingt trauriger, als es sich anfühlt.
Immerhin kommt sogar das Fernsehen und dann berichtet Taff, dass nirgends so schlimm gesoffen wird wie auf der Donauwiese. Das ist investigativer Journalismus, sauber rechercheriert und korrekt abgebildet. Falls die Fernsehleute neue schlimmste Saufwiesen suchen: in München gibt’s den Flaucher und den Englischen Garten, in Passau den KuWi-Strich und in Köln den Aachener Weier.
Vielleicht brauchen unsere Jugendlichen einfach noch ein bisschen Zeit, um auf gute Ideen zu kommen. Jedenfalls, ist es keine Lösung, ihnen auch noch die Plätze wegzunehmen, auf denen sie jetzt nun mal gestrandet sind.
Im Gegenteil, ich bin dafür, dass wir die Donauwiese ausbauen! Wie wär’s denn mit gemütlichen Sitzecken, Beach-Volleyball-Feld, Grillplatz, schönem Steg, und einer Public Viewing-Leinwand?
Dann könnten zwischen Fußballspielen auch mal Kinofilme laufen oder auch Inszenierungen aus dem Ulmer Theater. Die sinnentleerte Saufwiese würde zum Anziehungspunkt – für alle. Alt und Jung würden zusammen auf eine Leinwand glotzen, und danach ihre vermutlich konträren Ansichten debattieren. Ganz im Sinne meines Vaters! Der wär auch dafür, dass sich alle zusammen setzten. Dann bekäm die Wiese und damit auch die Jugend wieder Sinn und zwar wie? In dem aus dem Nährboden von Kultur, sprich Tradition ganz neue Ideen und Möglichkeiten wachsen.
Und so wären wir wieder am Ausgangspunkt:
Es geht um Werte, wie die Tradition zum Beispiel, es geht aber auch um Veränderung mit Sinn und Verstand. Und es geht darum, dass was vorwärts gehen muss! Das Leben zumindest kennt nur diese eine Richtung: vorwärts.
Aber, das ist mir schon auch klar, es ist und bleibt immer eine Gratwanderung.
Wie brachial darf die Veränderung nach vorne sein – ohne mit der Tradition ganz zu brechen? Darf eine Prinzessin Strapse tragen? Dürfen vielleicht schon, aber es soll keine Tradition daraus werden.
Aber eine tradition möchte ich nicht aufgeben und das sind Linsen, Spätzle und Maultaschen. Davon handelt unter anderem das nächste Lied von der ‚Omama‘, wobei diese spezielle Omama des Ulmer Liedermachers Walter Spira nachweislich nicht so liebevoll daherkommt, wie es uns in manchen Märchenbüchern immer wieder gerne verkauft wird:
Es folgt das Lied „Die Omama“
Und nun folgt die Verleihung des traditionellen Dentlerpreise, durch meine Mutter Gisela.
Liebe Adeptinnen und Adepten,
Ich sitze hier in der Nachfolge vieler Ulmer Spinner, Querdenker, Tüftler und Visionäre. Von einem erzählt das folgende Lied:
„Der Bärblinger“
Es muss vorwärts gehen, aber so, das wir Werte und Tradition in Ehren halten.
Übrigens Ivo, gut gemacht! der neue Bahnhofssteg hat jetzt auch ein Dach für die Obdachlosen, aber wo sind die Aufzüge zu den Gleisen?
So und jetzt noch für die, die’s vom Ivo nicht gesagt bekomme haben: Das Schwörwochenende hat seinen traurigen Ursprung in einer Art Bürgerkrieg. Dem einfachen Volk, den Gerbern, Fischern, Handwerkern wurde das Mitspracherecht im Rat entzogen. Sie gingen wutentbrannt auf die Straße, kämpften, so unerbittlich, dass sich die Blau rot färbte. Das einfache Volk hat gesiegt und es hat seinerzeit dem Bürgermeister den Schwur abgerungen, dass er fortan ALLEN gegenüber, ohne Ansehen von Stand und Reichtum, ein rechter und gerechter Mann sein werde. Damit er es nicht vergesse, sollte er jedes Jahr auf’s neue schwören. Und noch heute ist der Bürgermeister von Ulm der meistschwörende Politiker weltweit.
So, und jetzt wird gefeiert – unser Ulm, unsere Tradition, unseren Fortschritt – und zwar mit Sinn und Verstand!
Ira Dentler
Musik: Walter Spira