Sophitia

All the world’s a stage,
and all the men and women merely players.
Shakespeare

„Dieser Teufel von Mensch will Skulpturen machen … es ist zum Verzweifeln!“, beklagte sich der Bildhauer Paul Albert Bartholomé einst über seinen Freund Edgar Degas. Es muss um 1879 gewesen sein, dass der berühmte Maler in der Anfängerinnenklasse der Opéra jene kleine, schmächtige vierzehnjährige Tänzerin kennenlernte und sie Modell stehen ließ für eine Wachsstatuette, mit der er sich dem Publikum der Impressionistenausstellung anno 1881 zum ersten Mal als Bildhauer präsentieren wollte. Zwar zwickte Bartholomé noch die widerspenstigen Drahtenden des Gerüsts ab, die da und dort aus dem mit einem wirklichen Mieder, einem Gazeröckchen und Ballettschuhen bekleideten Körper mit echten Haaren hervorstachen, aber die Präsentation wurde zum Flop. „Das Resultat ist fast erschreckend“, schrieb der Kritiker Paul Mantz in Le Temps, „Monsieur Degas hat ein Ideal von Hässlichkeit geträumt … wenn er seinen Stil beibehält, wird er seinen kleinen Platz in der Geschichte der grausamen Künste erhalten.“

Degas verzichtet auf seinen kleinen Platz in der Geschichte der grausamen Künste und stellte fortan keine einzige Plastik mehr aus, ohne freilich das Modellieren sein zu lassen. Heftig rüttelnd an den Konventionen der Bildhauerei, erschuf er mit großer Energie, begleitet von mächtigen Zornesausbrüchen, aus lackrotem und schwarzem Wachs eine um die andere Tänzerinnenstatuette, von denen einige mit Tüllröckchen bekleidet waren – lauter Bewegungsstudien, festgehalten just in dem Moment, der die Vollendung einer vorhergehenden Geste markiert, während er schon jene anderen ankündigt, die folgen werden. Degas liebte, um mit Baudelaire zu sprechen, den menschlichen Körper als eine materielle Harmonie, eine schöne Architektur in Bewegung.
Was für eine glückliche Fügung, dass es in der ehedem Freien Reichsstadt Ulm den Goldschmid Rudolf Dentler gibt. Demnächst vollendet er sein 75. Lebensjahr, ist aber gleichwohl ein jugendlich-glühender Ballett-Enthusiast, geradezu schrankenlos entzündet von dieser Kunst, von der Picasso einmal sagte, sie funktioniere auf halsbrecherisch vielen Ebenen: auf einer ernsten, frivolen, persönlichen, universellen, politischen, allegorischen und mystischen. Wie einst der Bayernkönig Ludwig II. alle Standesschranken verwischte und sich huldvoll vor dem Dichter-Musiker Richard Wagner verneigte, stieg auch König Rudolphus von seinem Thron, um sich zu Degas, diesem kolumbischen Vermesser tänzerischer Bewegung, hinunterzubücken. Von ihm sieht er sich sozusagen prophetisch angekündigt, mit ihm hält er auf olympischer Anhöhe Zwiesprache.

Nicht jedem schöpferischen Menschen ist es gegeben, so genügsam zu sein wie der Schwabe Schiller, der sich bekanntlich am Geruch fauler Äpfel inspirierte, die er in seiner Schreibtischschublade verwahrte. Dentler braucht einen Degas, damit ihm jene Einfälle zufließen, die wir in der Publikation zu dieser Ausstellung bewundern dürfen: ein veritables Weihfestspiel des Tanztheaters, das die Frage versiegen lässt, wer denn nun den wahren Purpur des Bildhauers über wen werfe: Degas über Dentler oder Dentler über Degas.
Für Dentler ist die Frage entschieden. Er duldet keine fremden Götter neben sich, bestenfalls – es ist schon oben angedeutet – Propheten. Ein Schuft, wer da Züge von Selbstverherrlichung entdecken zu müssen glaubt. Ein Künstler wie Dentler, der stets das Ganze will und das Ganze gibt, muss allemal in der Königsloge sitzen und seine Konkurrenten in den Orchestergraben verbannen. Es ist ein schöner Zug von ihm, dass er nicht wie weiland Österreichs Kaiser Joseph einfach nur „Bravo, Mozart!“ in die Katakomben ruft, sondern das von seinem kompromiss- und bedingungslosen Durchbruchsstreben in Dienst gestellte Genie Degas dadurch ehrt, dass er jedes seiner in der Goldschmiede entstandenen Objekte mit einem roten Tupfer kennzeichnet – eine so unaufdringliche wie spektakuläre Reminiszenz an das rote Bildhauerwachs, mit dem Degas sehr viele seiner Tänzerinnenstatuetten modellierte, und den roten Signaturstempel auf den Zeichnungen der Nachlassversteigerungen. Und doch welch ein Kontrast vor diesem Hintergrund.
Ganz im Gegensatz zu Degas, der sich mit einer Unbedingtheit sondergleichen an die Fersen von Tänzerinnen heftete und jede ihrer extrem forcierten Gesten auswendig lernte, hat Rudolf Dentler selber Ballettunterricht genommen. Weil damals, vor 25 Jahren, der Eingang der Ballettschule in der Heimstraße, in die er als Eleve eintrat, die Umkleide der Tänzerinnen war, stieg er durch das Fenster, um in den Probenraum zu gelangen. Ganz offensichtlich hat er sich in den erschöpfenden Übungen bewährt, tanzte er doch auf der Bühne des Ulmer Theaters den König in „Dornröschen“, den Bischof in „König Artus“ und den Bergkönig in „Peer Gynt“. Nach den Worten Gauguins ist in einer Ballettaufführung „alles falsch, das Licht, die Dekorationen, die Frisuren der Balletteusen, ihre Büste und ihr Lächeln; wahr nur die Wirkungen, die davon ausgehen, das Gerippe, der menschliche Knochenbau, die Bewegung, ein Gewirr von Arabesken.“ Um diesen realistischen Aspekt ist es Dentler zu tun, wenn er mit Bildhauerwachs seine Plastiken zu modellieren beginnt. Damit sich jedoch in seinen Bronzegüssen keine süßliche Preziosität einnisten kann, befreit er seine Tänzer von den konventionellen Repräsentationsformen sexueller Identität und lässt sie ihre Elevationen, Batterien, Pirouetten und Pointes in einem androgynen Raum vorführen. Aus diesem Grund auch der Verzicht auf anmutige Physiognomien. Nur die Bewegung zählt, die akrobatisch gesteigerte Expressivität, die dynamische virtuose Technik des klassischen Tanzes. Unabhängig von konkreten Sujets lassen sich die Dentler-Statuetten auch als Bewegungspsychogramm lesen. Hinter jeder Geste steht ein Gefühl, hinter dem geschmeidigen Gleichklang eines Pas de deux innerste Angespanntheit: der Tänzer, ein form- und geistgeprägtes Wesen. „Das Absolute und Bleibende zu entdecken“, befahl Schiller, vom Duft einer runzeligen Apfelscheibe auf die richtige Fährte gebracht, allen, die nach dem „Vernunftbegriff der Schönheit“ suchen. Mag sein, dass Dentler diesen Imperativ kannte. Bei seiner Ausstellung im Moskauer Bolschoi-Theater im April 1993 sah er jedenfalls im Ballett „Kunst und Kirche zugleich“. Und wie sehr er Schillers Rat, sich aus der lebendigen Gegenwart zu entfernen, befolgte, dokumentieren auch die Säulen seiner „Bühnenbilder“. Mit ihren Zackungen, Zähnungen und Segmentierungen erwecken sie die Symbolik einer pulsierenden Verbindung zwischen Himmel und Erde.

Dem „Bleibenden“ auf die Spur kommt auch, wer einmal die körperliche Präsenz der tanzenden Figuren ausblendet. Dann bleiben nur noch der immaterielle Glanz polierter Flächen und lebendige, sensible Umrisslinien übrig, die sich zu einem nicht mehr enden wollenden vielstimmigen Fluß fügen, der den ganzen Raum als rhythmisch bewegtes Ornament aufwirbeln lässt. Kaum noch der Schwerkraft unterworfen, vermitteln die Dentlerschen Statuetten das atmende Gefühl geheimnisvoller Leichtigkeit, und im entzückten Betrachten dieser rhythmischen Levitationen fühlt sich der Betrachter selber fast gewichtslos. Der Ulmer Albert Einstein vereinte Raum und Zeit und gab uns die moderne vierdimensionale Vorstellung einer „Raumzeit“. Dentler fügt eine fünfte Dimension hinzu, in der es, wie es die Superstring-Theoretiker behaupten, zu Oben und Unten, Vorne und Hinten und Seitwärts weitere Richtungen „einwärts“ geben und der Stoff, aus dem wir Menschen gemacht sind, nur Treibgut auf einem Ozean der dunklen Materie sein soll.

Noch ist die fünfte Dimension nicht in die Reichweite der Grundlagenphysik gelangt. Dass sich die Realität als etwas völlig Unerwartetes herausstellt, ist für Dentler ausgemachte Sache. Er fragmentarisiert, partikularisiert einige seiner Figuren, löscht ihre Körperlichkeit aus, wie das einst in der Bühnenrealität Leon Bakst, der Kostümgestalter, Bühnenbildner und Librettist der berühmten „Balletts Russes“, mit seinen choreographisch konzipierten Kostümentwürfen erprobt hat: seine Gewänder zerteilen den Körper, evozieren die Möglichkeit eines vollständig befreiten Selbsts. Würden dem Körper Flügel wachsen, er löste sich vom Boden und flöge. „Er flöge zu Gott, ja wir bestreiten es nicht“, schlussfolgerte der russische Philosoph Wassili Rosanow, als er anno 1900 ein Gastspiel des Balletts in St. Petersburg sah. Diese Vision von Körperbewegung sieht man auch in vielen Dentler-Figuren verwirklicht, die zwar noch den kühnsten Formen, bizarrsten Umrissen und anatomisch unwahrscheinlichsten, verschraubtesten Posen Organizitäzt verleihen, aber sich vom Physischen weg und hin zum Künstlerischen und Geistigen bewegen. Nicht allein deswegen, um die Sackgasse des Naturalismus oder Pseudoklassizismus zu meiden, sondern insbesondere, weil Dentler das Territorium der Realität verlassen, die Wirklichkeit aufheben, eine „Über-Realität“ postulieren will. Bei Max Ernst ist von der poetischen Zündung die Rede, die die Elemente einer Collage zusammenfüge. Diese Erfahrung eines ganz anderen, eines poetischen Zusammenhangs ruft auch Dentler hervor, indem er in geradezu subversiver Manier die anatomische Wirklichkeit sprengt. Es ist ein magischer Moment: Er bringt Körperpartien seiner Tänzer zum Verschwinden und lässt sie in einer anderen, entmaterialisierten Form wieder auftauchen, geladen mit Potenzen, mit Zauberkraft, getränkt mit seinem eigenen Existenzgefühl, wonach die Wahrheit, das Wahre, nicht begriffen, sondern einzig durch künstlerische Phantasie zum Vorschein gebracht werden kann. „Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch“, so sagte schon Geheimrat Goethe, „lässt sich niemals von uns direkt erkennen: wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, im Symbol …“

Dass es sich bei seinen Figuren um Sinnbilder für etwas nicht Wahrnehmbares, und nichts anderes ist ein Symbol, handelt, darauf weist vor allem die Edelstahlfigur mit dem Titel „sophitia“ hin. In ihm steckt der Name „Sophitia“, worunter die Pythagoreer das meisterlich vollendete Können, die nur den Göttern vorbehaltene Summe allen Wissens, die personifizierte Weisheit Gottes verstanden. Der Tänzer ist für Dentler eine Manifestation dieser Weisheit oder, wie Bauhausmeister Schlemmer dies einmal ausdrückte, „ein Gefäß des Unmittelbaren, Metaphysischem“. Auch ihm, dem Schöpfer des triadischen Balletts mit seinen groteskabstrahierten, mechanisierten Figurationen, erweist der Meister aus Ulm seine Referenz: einige seiner Statuetten sind statt in ein „Flitterkleid“ in starre Metallstriefen gehüllt, in ein raumplastisches Gehäuse „verschalt“, wie es für die Tanzkreationen Schlemmers typisch war.
Der geniale kahlgeschorene Schwabe Schlemmer ein weiterer Prophet von König Rudolphus? Diese Frage näher zu untersuchen, wäre der Mühen eines kunstwissenschaftlichen Kanalarbeiters wert. Wir lassen es mit dem Hinweis sein Bewenden haben, dass das Streben nach Totalität und Universalität auch die Arbeiten von Dentler prägt. Es wäre verfehlt, sie nur als Standbilder einer kinematographisch verlangsamten Ballettaufführung zu lesen und nicht als charismatische Chiffren, als „Destillat“ aus Kunst und Erlösungswunsch. Wir haben es oft genug in den Thronreden König Dentlers gehört, dass er dem Ballett geradezu magische Funktion beimisst: Bändigung, Disziplinierung, Abwehr des andrängenden Chaos irrationaler Triebkräfte. Lässt man die Einschätzung Nietzsches gelten, dass groß nur der Künstler genannt werden kann, der „über das Chaos Herr wird, das Chaos zwingt, Form zu werden“, dann zählt Dentler zu den wirklich großen. Von Amphion, dem König von Theben, erzählt man sich, sein kunstvolles Saitenspiel hätte die von seinem Vater Zeus herbeigeschleppten Steine zu einer Stadtmauer zusammengefügt. Wenn Dentler, der „König“ von Ulm, die Saiten seines schöpferischen Ingeniums zum Klingen bringt, dann fügen sich Arme, Beine und Rumpfteile von Tänzern, im Schmelztiegel der Abstraktion geläutert, zu mythischen Figuren, zu fiktiven „Ordnungsbildern“, aufgerichtet aus den Fragmenten einer disparaten Wirklichkeit: die Kunst als Lebensbewältigung, Refugium und Rettung.

Eduard Ohm